Caroline und Flora sind Geschwister – die ältere Flora beschützt Caroline, wenn es darauf ankommt. Eine normale Geschwisterliebe? Vielleicht, wenn da nicht ihre alleinerziehende depressive Mutter wäre, die während ihrer Krankheitsschübe unfähig ist, für ihre Kinder zu sorgen. Die drei sind eine Hochrisikofamilie mit schlechten Chancen für die Schwestern, sich normal zu entwickeln. Doch das Leben hat nicht mit Flora gerechnet …
Eine Liebeserklärung an alle resilienten Menschen dieser Welt.
Wenn ich stark genug bin, sähe ich Vergissmeinnicht.
»Das wollte ich nicht«, stieß er erschrocken hervor.
»Raus, sofort!«, zischte sie. Ihre Stimme klang zittrig, was sie verärgerte. Sie tastete mit den Fingerspitzen an ihre Unterlippe. Diese fühlte sich auf merkwürdige Art taub an, schmerzte widererwartend aber kaum.
Er ob die Hand, um sie ihr versöhnend auf die Schulter zu legen. Sie zuckte zurück, trat dabei auf
die Scherben des Tellers, den sie vor Schreck hatte fallen lassen und stieß mit der Hüfte leicht gegen die Anrichte. Das Geschirrhandtuch hielt sie noch in der Hand und blickte verwirrt auf den karierten Stoff. Was war passiert?
»Es tut mir leid. Bitte, verzeih mir.«
Sie schaute auf ihre Fingerkuppen, tiefrot vom Blut. Im Nu waren ihre Gedanken wieder klar.
»Ich sagte raus und ich sagte sofort!«, stieß sie jetzt mit fester und klarer Stimme hervor.
Lars nahm den Arm zurück, den er versöhnend ausgestreckt hatte und ließ ihn schlaff neben seinem Körper hängen.
»Paulina, bitte!«. Er sah sie an, erkannte aber an ihrem entschlossenen Blick, dass es besser war das Feld zu räumen.
»Okay, wir reden später. Ich wollte das nicht, wirklich nicht.«
Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, löste sich der Knoten in ihrem Bauch und die Tränen bahnten sich ihren Weg.
Mit einem im Wasser getränkten Papiertaschentuch stand sie nun im Bad vorm Spiegel und tupfte das Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe.
»So ein verdammtes Arschloch«, murmelte sie und begutachtete die Wunde an ihrem Mund. Es war ein kleiner Riss, der Senkrecht an der Seite ihrer Unterlippe verlief. Nicht besonders tief, dennoch konnte sie die Tränen der Demütigung nicht zurückhalten.
Das Klingeln ihres Mobiltelefons ließ sie zusammenzucken, sodass sie mit dem Tuch gegen die Wunde stieß, der Schmerz schoss stechend durch ihre Lippe. Sie schmiss das Taschentuch ins Waschbecken, wischte sich mit dem Handballen die Tränen aus dem Gesicht und zog die Nase hoch. Niemand sollte merken, dass sie geweint hatte, keiner durfte wissen was passiert war. Sie zog ihr Telefon aus der Gesäßtasche und ging ins Wohnzimmer hinüber.
»Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist. Diese blöde Kuh sagt mir doch tatsächlich ab?«, begann ihre Mutter zu reden, ohne abzuwarten, dass sie sich meldete.
»Wer hat abgesagt«, frage sie.
»Na die Göhme! Nicole Göhme! Meine Urlaubsvertretung.«
»Was ist denn passiert?«, Paulina setzte sich auf die Lehne der kleinen Rundecke, ein Erbstück aus längst vergangenen Zeiten.
»Also«, begann Jasmin. »Übermorgen fahre ich doch zu meiner Freundin nach Bochum. Als Urlaubsvertretung habe ich der Hausverwaltung die Göhme vorgeschlagen. Ich habe ihr alles gezeigt und erklärt, was sie machen muss. Ich meine, das ist ja nun wirklich kein Hexenwerk und als ich sie heute anrufe, weil wir abgemacht haben, dass ich ihr die Schlüssel bringe, sagt sie doch glatt zu mir: Du, ich habe mir das noch mal überlegt, ich kann die Urlaubsvertretung nicht machen. Jetzt stehe ich da wie eine doofe Kuh und weiß nicht wo vorne und wo hinten ist.«
»Das ist wirklich ein starkes Stück. Und findest du niemand anderen der dich vertreten kann?«
»Nein. Wie denn? Du weißt doch, wir sind chronisch unterbesetzt und wer will denn schon putzen.«
»Ich könnte das machen, wenn du magst.«
»Du? Ich dachte ihr fahrt in Urlaub?«
»Hat sich kurzfristig zerschlagen.« Sie rollte die Augen über das unbeabsichtigte Wortspiel und verzog sarkastisch den Mund zu einem Lächeln, doch der Schmerz zwang sie jäh sich das Lächeln zu verkneifen.
Vor sieben Jahren war ihr Vater plötzlich gestorben. Ein schmerzlicher Verlust, ein gravierender Einschnitt in ihr Leben. Von einer Sekunde auf die andere war nichts in ihrem Leben mehr so wie es war. Alles hatte sich geändert, mit einem Wimpernschlag.
Plötzlich fand sie sich mit ihrer Mutter in einem Haus wieder, das sie allein nicht halten konnten und ohnehin für sie beide nun viel zu groß war. Krampfhaft hatten sie einige Zeit versucht so etwas wie normalen Alltag zu leben, ohne Erfolg. Der Zug des Lebens war mit dem Tod ihres Vaters in voller Fahrt aus den Gleisen gesprungen und so hatte sich ihre Mutter Jasmin entschlossen, das Haus zu verkaufen und in das Haus auf der Nordseeinsel zu ziehen, dass sie von ihren Eltern, Paulinas Großeltern geerbt hatte.
Sie war in Bünde geblieben einer kleinen Stadt am Rande des Wiehengebirges, wo sie sich eine kleine Zweizimmerwohnung, in einem Mehrfamilienhaus gemietet, und einen Teil der Möbel aus ihrem Elternhaus übernommen hatte. So wie diese kleine blau-beige Rundecke auf dessen Lehne sie gerade saß und den Fernseher, der in der Ecke des Raumes stand. Ihre Ausbildung zur Zahnmedizinischen Fachangestellten hatte sie vor vier Jahren abgeschlossen und arbeitete nun in der Praxis von Dr. Kai Bendix. Innerhalb der Schulferien machte die Praxis Betriebsferien und morgen war Freitag, was hieß, dass sie lediglich bis Mittag arbeiten musste und dann zwei Wochen Urlaub vor ihr lagen, von denen sie jetzt, aus einem Bauchgefühl heraus eine ganze Woche verplant hatte.
Eine Coming-of-Age-Geschichte aus den 1990er-Jahren
Die 16-jährige Tari und ihre Clique jonglieren mit dem Drang nach Leben und dem zur Selbstzerstörung, erleben Freundschaft und Verrat, Liebe und Verlust, Sex und Macht. Und unter der Oberfläche verbergen sich viel tiefere Abgründe, als es zunächst scheint.
After-Hour
Der Bass dröhnt bis in Taris Kopf. Sie sitzt im Chill-out-Raum auf der obersten Stufe der treppenartig angelegten Sitzbänke, den Kopf an die Wand gelehnt, die an den House-Club grenzt. Sie lächelt, hat die Augen geschlossen. Der Fuß wippt im Takt. Da lässt sich jemand auf den Platz neben ihr fallen. »Boah, ist mir heiß!« Tari öffnet die Augen. Lemon stürzt ein Glas Wasser herunter, dann schnappt sie sich einen der herumliegenden Flyer und fächelt sich Luft zu. Mit geweiteten Pupillen sieht sie Tari an. »Da drin tropft schon wieder der Schweiß von der Decke«, sagt sie und zeigt mit dem Daumen in Richtung House-Club. »Der Sonic ist aber auch mal wieder richtig geil heute, oder?« »Ja. Die Musik ist heute eh echt der Hammer! So viel getanzt habe ich schon lange nicht mehr«, sagt Tari und legt kurz ihren Kopf auf Lemons Schulter. »Aber so langsam bin ich ganz schön fertig und meine Füße tun voll weh …« »Ach was, komm schon«, lacht Lemon und schiebt die Schulter und damit auch Taris Kopf hoch. »Nicht schlapp machen jetzt, gleich kommt noch Karotte zur After-Hour!« »Oh, cool!« Tari nimmt Lemon das Glas aus der Hand und trinkt den letzten Schluck aus. »Wo ist denn eigentlich Naomi die ganze Zeit?« »Na, was glaubst du wohl? Ich habe sie vorhin die ganze Zeit mit Batschi quatschen sehen. Ich wette, die treiben’s jetzt gerade irgendwo.« Tari verzieht das Gesicht. »Die könnte doch wenigstens mal Bescheid sagen, wenn sie so lange weg ist.« »Die hat gerade ganz anderes im Kopf. Los komm, wir gehen wieder rein.« »Okay, aber ich hole noch schnell neues Wasser.« »Dann bis gleich.«
Auf dem Weg zu den Toiletten läuft Tari Chris über den Weg. »Hey, Sweetie, ich dachte schon, du wärst abgehauen, ohne dich zu verabschieden!« »Als ob ich so etwas jemals tun würde!« Tari grinst und schmiegt sich in seinen Arm. Allerdings nur kurz. »Bäh, du bist ganz nass geschwitzt.« »Na, das wärst du auch, wenn du nicht so lange Pause machen würdest.« »Ha, ha! Ich hole nur schnell Wasser, und dann geht’s weiter.« »Oh, ich komme mit.« Chris drängelt sich hinter ihr her in die Damentoilette. »Was soll das werden?« »Tu doch nicht so unschuldig!« Er zieht sie an sich und küsst sie sanft. »Ich finde, ich konnte mich heute bisher viel zu wenig um dich kümmern …« Tari lächelt. »Du meinst wohl, du möchtest, dass ich mich um dich kümmere, oder?« Sie lässt ihre Hand in seinen Schritt gleiten. »Mmhhh …« »Ja, das auch«, stößt Chris hervor und küsst sie wieder, diesmal weniger sanft. Er drängt sie an die Wand, und sie reiben ihre Körper aneinander. »Mensch, muss das sein? Macht mal Platz da!« Eine junge Frau steht hinter ihnen. »Kann ich heute noch mal ans Waschbecken, oder was?« »Ja, klar doch«, sagt Chris schnell und Tari kichert. »Komm«, sagt sie und zieht ihn in eine der Kabinen. »Schließ die Tür ab.« Wieder drängen sie sich aneinander. Während ihre Küsse immer wilder werden, schiebt er ihr Top und ihren BH hoch und streichelt ihre Brüste. Sie nestelt an seinem Gürtel, bis es ihr schließlich gelingt, ihn zu lösen. Dann öffnet sie seine Hose und greift nach seinem Schwanz. Er stöhnt, während sie ihre Hand langsam auf und ab gleiten lässt. »Komm, leg dich hin!« Chris bugsiert sie herum und hilft ihr, sich auf den geschlossenen Toilettensitz zu setzen und nach hinten zu lehnen. Dann hockt er sich zwischen ihre Beine und streift ihr den ohnehin kurzen Rock über die Hüfte nach oben, den Slip zur Seite. Nun ist es an ihr, zu stöhnen, als sie seine Zunge spürt. »Moment, warte mal …« Sie rutscht ein Stück weiter nach vorne und stemmt ihre Füße links und rechts von ihm an die Toilettentür. »Ja, spreiz die Beine, Schätzchen«, flüstert Chris, und Tari lacht. Er widmet sich ihr wieder, während sie mit den Händen durch sein Haar fährt. Sie kommt ziemlich schnell, und als er sie wieder auf die Füße zieht und sie umarmt, grinst er breit. »Nur nicht so selbstzufrieden, mein Lieber«, sagt sie, küsst ihn aber lange und nimmt seinen Schwanz in beide Hände. »Hier wartet wohl noch jemand auf mich.« »Oh ja …«
Danach ordnen sie in der Enge der Toilettenkabine mühsam ihre Kleider und lächeln sich an. »Hoffentlich hat uns niemand gehört«, sagt Tari. »Oh doch!«, tönt es aus der Nachbarkabine. »Und es war geil!« Schnell verlassen Chris und Tari die Kabine und gucken nach nebenan. Dort kommt ebenfalls ein Pärchen heraus. »Ach klar, der Juri, wer sonst bringt so 'nen Spruch«, sagt Chris und begrüßt den Mann mit Handschlag. »Keine Sorge, wir hatten auch unseren Spaß«, sagt Juri und wedelt mit einer Tüte weißen Pulvers vor Chris‘ Gesicht herum. »Brauchst du was?« »Ich bin versorgt, danke, Mann.« »Na dann.« Juri lässt das Tütchen in der Tasche der braunen Lederjacke verschwinden, die er über einem weißen Tank-Top trägt. Seine Begleiterin steht noch vor dem Spiegel und wischt an ihrer Nase herum. »Komm schon, ich will feiern.« Die beiden ziehen ab. »Wer war das denn?«, fragt Tari. »Ach, der Juri, der geht schon länger ins ,Loop‘ als wir. Aber er war eine ganze Weile abgetaucht, ich habe ihn ewig nicht gesehen.« »Der kommt sich ziemlich cool vor, was?«, fragt Tari, während sie sich die Hände wäscht. »Kann sein, ich kenne ihn eigentlich kaum.« Chris umarmt sie von hinten und betrachtet sie beide im Spiegel. »Ich mag übrigens deine neue Haarfarbe. Was ist das, Rotblond?« »Ja.« Er sucht ihren Blick. »Geht’s dir gut?« Sie dreht sich um und küsst ihn noch mal. »Ja, klar! Lass uns tanzen gehen!«
»Na endlich! Wo ist denn das Wasser?«, ruft Lemon ihr ins Ohr, als sie in den House-Club kommen. »Oh, sorry, das habe ich wohl irgendwie vergessen …« Tari schaut zu Chris und kichert. Lemon verdreht die Augen, muss dann aber auch lachen. »Hast du noch ein leeres Glas? Dann gehe ich was holen!« Lemon drückt Chris ein Glas in die Hand, und der trabt zurück in Richtung Wasserhahn, während sich die Mädchen durch die Menge in die Mitte der Tanzfläche schieben. »Ist Karotte schon da?«, fragt Tari. »Ich sehe auch nichts, aber hört sich so an. Ah, da sind Tino und Jannis«, sagt Lemon und zeigt auf ihre Freunde. Jannis winkt ihnen zu, aber Tino scheint zu vertieft, als dass er sie bemerken würde. Tari und Lemon bewegen sich nun ebenfalls zur Musik. Tari schließt die Augen und streckt die Arme nach oben. »Keep on jumpin‘…« Da stößt sie jemand mit der Hüfte an, und sie sieht auf. »Hey, da bist du ja endlich wieder!« Naomi tanzt nah an sie heran und küsst sie auf den Mund. Eng umschlungen bewegen sie sich einige Takte lang zusammen, bis Naomi sich wieder aus der Umarmung löst. Inzwischen hat auch Lemon die Freundin bemerkt und gesellt sich zu ihnen. »Na, wie war’s denn, du kleine Schlampe?«, fragt sie grinsend und zieht Naomi an ihren langen, schwarzen Haaren. »Ziemlich geil war’s, und du bist doch nur neidisch«, gibt diese zurück und lächelt. »Ja klar, auf Batschi, ganz bestimmt!« »Hey, Schluss jetzt!« Tari legt jeder von ihnen einen Arm um die Schultern. »Sonst verpassen wir noch Karottes ganzes Set.« Eine Weile tanzen die drei eng aneinandergedrängt, bis sich Lemon wieder mehr nach vorne bewegt. »Whooohhh!«, ruft sie und reckt ihren Arm Richtung DJ-Pult. Naomi tanzt mehr in die Mitte und gesellt sich zu Tino. Während sie sich weiter dem Rhythmus hingibt, schließt Tari wieder die Augen und lächelt. »Something‘s goin‘ on in my soul …«
Gegen 10 Uhr drängt Tino, er wolle nun fahren. »Was, schon?«, nölt Lemon, aber Tari stimmt ihm zu. »Ich bin echt im Arsch. Und ich habe meiner Mutter versprochen, zum Mittagessen zu Hause zu sein.« Naomi und Lemon lachen. »Na und, was denn?« »Also, los jetzt!«, unterbricht sie Tino, und gemeinsam mit Jannis gehen sie alle durch die sich langsam lichtenden Reihen der Tanzenden in Richtung Ausgang. Im Chill-out winken sie noch einigen Bekannten zu, bei Luke und Mela, einem sehr harmonisch wirkenden Paar, bleiben sie kurz stehen und verabschieden sich alle – bis auf die Jungs untereinander – mit Küssen auf den Mund. »Kommt ihr nächste Woche?«, fragt Luke noch und drückt Tari einen Flyer in die Hand: ,Das Loop in Kassel präsentiert: Samstag, 6. Juli 1996 – Sven Väth‘. »Ja klar, das lassen wir uns nicht entgehen«, sagt Tino. »Seht nur zu, dass ihr früh da seid, es wird total voll werden.« Luke nickt und lächelt Tari noch mal kurz an. Als die Clique die Kasse schon passiert hat und gerade die Treppe heruntergegangen ist, bleibt Tari an deren Fuß stehen. »Oh Mist, ich habe noch meine Tasche am Eingang liegen.« »Dann hole sie schnell, wir warten im Auto, okay?«, sagt Tino. »Alles klar!« Tari steigt die Treppe wieder nach oben. Als sie etwa in der Mitte ist, blickt sie auf, weil ihr jemand von oben entgegenkommt – und bleibt abrupt stehen. Seine Haare sind lang, bis auf die Schultern, blondiert, mit dunklem Ansatz und verwaschenen Blau- und Grün-Resten darin, seine Arme muskulös, sehnig, tätowiert. Er sieht sie nun ebenfalls an. Tari zuckt zusammen. Seine Augen sind dunkel und … wild. Er mustert sie aufmerksam, lächelt ein wenig schief und geht an ihr vorbei die Stufen hinunter. Sie dreht sich um und schaut ihm wie hypnotisiert hinterher. Zögernd hebt sie den Fuß, unschlüssig, in welche Richtung sie gehen soll. Sie schwankt und wäre vielleicht gefallen, wenn sie nicht jemand an der Schulter festgehalten hätte. Es ist Natascha. »Hey, Tari, was machst du denn?« »Ich, äh, keine Ahnung … Hast du den Typ gerade gesehen?« »Nur von hinten, wieso?« »Ich muss unbedingt wissen, wer das ist …« »Gefällt er dir? Keine Sorge, der kommt bestimmt nächste Woche wieder, wenn der Väth da ist.« »Meinst du echt?« Der Unbekannte ist um die Ecke verschwunden, und Tari sieht Natascha jetzt erstmals in die Augen. »Ja klar, ganz bestimmt«, sagt Natascha und schüttelt ihre langen, platinblonden Haare. Dann streichelt sie Taris Arm. »Fahrt ihr jetzt? Dann brauchst du noch deine Tasche, gell?« Sie hakt Tari unter, und gemeinsam gehen sie die Treppe weiter nach oben. Aus dem Inneren des Clubs dringen dumpf die Takte von »Finally«. Natascha verschwindet im Kassenraum und kehrt mit Taris Handtasche zurück. »Ich habe dir übrigens einige Seiten in dein Feierbuch geschrieben, gegen Morgen war der Kassendienst echt langweilig.« »Super, danke!« Tari umarmt Natascha, und sie küssen sich zum Abschied. »Bleibst du noch?« »Ja, ein bisschen tanzen will ich noch, aber ich haue auch bald ab. Dann bis nächste Woche, ja?« »Auf jeden Fall, das wird cool!«
Tari stemmt sich gegen die Tür und tritt ins Freie, aus dem Dunkel des Clubs ins helle Sonnenlicht. Es blendet sie, sodass sie für einen Moment die Augen schließen muss. Sie lächelt und genießt kurz die Wärme auf ihrem Gesicht. Dann macht sie sich auf den Weg zu Tinos Auto. Er sitzt bereits hinter dem Steuer, Jannis hat sich auf dem Beifahrersitz zusammengerollt und scheint zu schlafen. Naomi und Lemon stehen neben dem Auto und teilen sich einen Joint. Als Tari jetzt zu ihnen kommt, hält Lemon ihr den Rest hin. »Magst du den zu Ende rauchen?« »Ja, danke!« Tino kurbelt die Seitenscheibe herunter. »Wie lange braucht ihr denn noch?« »Wenn du dich nicht immer so anstellen würdest, hätten wir den auch während der Fahrt rauchen können«, antwortet Lemon. »Oh, da ist der Mario, mit dem muss ich noch kurz was klären!« »Wir beeilen uns«, sagt Tari schnell zu Tino und zieht wieder an dem Joint. »Muss das denn immer sein mit der Scheiß-Kifferei?«, schimpft der. »Ich dachte, wir sind gegen Drogen?« »Sind wir ja auch, aber so ein bisschen Gras ist doch nicht schlimm«, sagt Naomi. Tino schnaubt nur. »Was hat Lemon denn in letzter Zeit dauernd mit diesem Mario zu schaffen?«, fragt Tari. Naomi zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung, was sie von dem Druffi will. Ich finde es auch komisch, aber na ja.« »Sag mal, hast du eben so einen Typen rauskommen sehen, mit langen, bunten Haaren, brauner, weiter Hose und einem ärmellosen Shirt?« »Nö, wieso?« »Der sah echt hammergeil aus, ich muss unbedingt wissen, wer das ist!« »Wir schauen nächste Woche nach ihm, okay? Hast du ihn echt vorher noch nie gesehen?« »Hast du dich verknallt, oder was?« Tino grinst breit. »Ach, Quatsch!«, sagt Tari und wirft den Jointstummel auf den Boden. Die beiden Mädchen steigen ein. »Lemon!!«, schreit Tino über den Parkplatz, sodass Jannis zusammenzuckt. »Jetzt komm endlich!« »Jaa-haaaa …«
Während der Fahrt kuschelt Tari sich vorsichtig an Naomis Schulter. »Du«, flüstert sie ihr zu. »Ich glaube, ich habe mich wirklich verliebt …« Da gibt es plötzlich einen Ruck, und alle werden nach vorne in die Gurte geworfen. »Tino!!!« »Sorry, den habe ich nicht gesehen, da half nur noch eine Vollbremsung, he, he.« »Oh, Mann«, stöhnt Naomi. »Vielleicht fährst du zur Abwechslung einfach mal etwas langsamer ...« »Ach, Schwachsinn! Komm schon, sonst machst du dir doch auch nie Sorgen bei mir im Auto, oder?« Tino greift nach hinten nach Naomis Hand, aber sie entzieht sie ihm. »Guck lieber auf die Straße!« Eine Weile schweigen sie alle. »Naomi«, flüstert Tari dann wieder. »Ja?« »Ich habe das eben ernst gemeint, so was habe ich noch nie gefühlt …« »Ach, Mäuschen …«
Geschichten aus dem Kopf gepurzelt - nach
ihrer Beteiligung an einigen unserer Anthologien endlich das
Debutbuch von Martina Raguse. Begleiten Sie die Autorin durch
die Welt der bunten Möglichkeiten, jede der in sich
abgeschlossenen Kurzgeschichten ist ein Erlebnis. Kurz,
prägnant, lebensbejahend, traurig, heiter. Dieses Buch ist ein
mehrschichtiges Dessert, Sie werden auf GESCHICHTEN stoßen, die
Sie sich nicht ausdenken können. Denn diese Geschichten purzeln
einfach so aus dem Kopf.
Mehr zu Geschichten aus dem Kopf gepurzelt
finden Sie hier.
Lisas Verwandlung
Eines Tages entschied sich Lisa für einen Schneewittchenschlaf.
Sie entfernte sich von ihrer inneren Haselnuss und schlief tief
und fest.
Auf leisen Sohlen kamen sieben Emotionszwerge auf die Idee,
groß raus kommen zu wollen. Da hatten wir:
- Holger Hysterie,
- den kleinen Feigling Bibberich,
- Klara Kann Nix,
- Hannelore Häßlich,
- Marie Mutlos
- Penelope Panik
und zu guter Letzt kam Angela Angst um die Ecke.
Sie etablierten eine Anarchie. Jede und jeder machte, was sie
oder er wollten.
Es gab keine Kontrolle und auch keine Weisungsbefugte. Jeder
durfte mal bestimmen, manchmal regierten sie auch
durcheinander. Sie hatten sich aber im Großen und Ganzen gut
abgesprochen, die Sieben.
Wollte Lisa in einer Art Schlafwandlung etwas Schönes tun, kam
Holger sofort zum Vorschein und schrie lautstark nach Hilfe,
alleine gehe mal gar nichts. Der kleine Feigling Bibberich
hielt sich an Holgers Hosenbein fest und stimmte heftig nickend
zu.
Ein anderes Mal versuchte sich die Schlafwandlerin an die
Verantwortung heranzuschleichen. Klara Kann Nix war sofort zur
Stelle und redete ihr jegliche Kompetenz für was auch immer
aus. Unterstützung bekam sie jedes Mal von Hannelore Häßlich,
sie sah gruselig aus, unzumutbar für die Welt.
Alle diese Anarchisten waren so stark und durchsetzungsfähig,
dass Marie Mutlos fassungslos zusah. Sie konnte gar nichts tun.
In ihrer Mutlosigkeit stand ihr einzig und allein Penelope
Panik zur Seite. Sie war stark, ganz das Gegenteil von Marie.
Marie war wirklich froh, wenn Penelope da war.
Lisa träumte sich in eine andere Welt, in eine Welt, in der sie
wieder sie selber sein durfte. In dieser Welt erschien alles so
leicht und wunderbar.
Eines Tages traf Lisa eine Entscheidung und machte sich auf den
Weg, ihre kaputte Haselnuss zu reparieren. Sie merkte sehr
schnell, nur sie selber konnte das. So nahm sie sich gutes
Werkzeug zur Hand und machte sich an die Arbeit. Sie
modellierte und weckte so, ganz auf sich selber zugeschnittene,
Helferleins. Plötzlich waren sie alle da, alle ihre
eingeschlafenen Facetten waren aufgewacht und voller
Tatendrang. Mut, Neugier, Zuversicht, Humor, Leichtigkeit,
Sicherheit und Stärke. Es war erstmal ein heilloses
Durcheinander. Die sieben Zwerge versuchten immer wieder ihre
Freiheit zu verteidigen, Lisas aufgewachte Facetten hatten eine
Menge Arbeit, die Bande in den Griff zu bekommen. Das ging mit
viel Geduld und Liebe recht flott.
Alle haben geholfen, die Emotionszwerge zu Emotionsriesen zu
machen. Emotionsriesen müssen nicht ständig negativ auffallen,
sie kennen ihre Aufgaben und Stärken und ihre
Wichtigkeiten.
Ein sehr wichtiger kreativer Teil von Lisa, ihr innerer Kern,
übernahm seine Verantwortung. So geht das nicht, sagte er, ab
sofort entscheide ich mein Leben. Jetzt sitzen alle 15
gemeinsam in der Muschel des Lebens, glitzern fröhlich vor sich
hin, und schauen lächelnd in die Zukunft.
Frau Häßlich kann lächelnd in den Spiegel blicken, sie mag sich
jetzt. Holger ist meist tiefenentspannt, außer manchmal. Der
kleine Bibberich läuft oft an der Hand von Klara, sie hat sich
zu einer durchaus selbstkritischen Macherin entwickelt. Hier
fühlt sich der kleine Feigling sicher. Marie Mutlos und
Penelope Panik besuchen regelmäßig ein Achtsamkeitsseminar bei
Lisa. Das macht allen dreien sehr viel Freude und stärkt sie
enorm. Angela Angst findet gerade ihre wahre Bestimmung, sie
ist in der Ausbildung zum Krisencoach.
Und aus der kaputten Haselnuss ist eine wunderschöne Perle
geworden.
Begleiten sie Jess Melyrik auf ihrer Reise in ihr innerstes
Dunkles. Von selbstreflektierenden Texten umgeben beschreiben
ihre Gedichte schonungslos ihre Gefühlswelt. Finden sie heraus,
ob das Licht am Ende des Tunnels ein Ausgang oder doch der
entgegenkommende Zug des Lebens ist.
Im Buch finden sich sowohl lyrische, als auch Prosatexte:
Mehr zu Schattenseiten
finden sie auf der verlinkten Webseite.
Im Krieg mit mir
Vor einiger Zeit lief eine Reportage im Fernsehen. Es ging um
einen Mann, dem es augenscheinlich an nichts fehlte. Er hatte
alles, was er sich für sein Leben wünschte und dennoch, gab es
einen Faktor, der es ihm unmöglich machte glücklich zu sein.
Denn solange er denken konnte, quälte ihn eines seiner Beine!
Nicht etwa, weil damit etwas nicht stimmte, sondern weil es
einfach nicht zu ihm gehörte. Wie ein angeborener
Fremdkörper.
Nachdem er lange Zeit sein Möglichstes versucht hat, um damit
zurecht zukommen, sah er keinen anderen Ausweg! Als seine Frau
mit den Kindern unterwegs war, füllte er einen großen Behälter
mit Eis und ließ sein Bein hinein hängen. Einige Stunden
vergingen. Als seine Frau zurückkam und ihn bewusstlos vorfand,
rief sie umgehend einen Krankenwagen. Im Krankenhaus sahen die
Ärzte sich gezwungen, sein Bein zu amputieren. Er bekam eine
Prothese und wurde dadurch glücklicher als jemals zuvor. Er
fühlte sich befreit.
Als ich diesen Bericht sah, dachte ich, dass ich mich
eigentlich recht ähnlich fühle. Schon immer quälte mich dieses
Gefühl, nicht in diesen Körper zu gehören. Und das sehen nicht
nur mein Innerstes, meine Seele und mein Geist so, sondern auch
dieser Körper, in dem ich stecke. Er versucht, schon immer,
mich loszuwerden! Vollkommen egal, was ich auch versucht habe,
um mit ihm ins Reine zu kommen. Er will mich nicht akzeptieren
und bringt das mit all seinen Möglichkeiten zum Ausdruck. Es
ist ein ständiger Kampf, den ich allzu oft verliere. Es ist
anstrengend und ermüdend. Gibt es doch keinen Ausweg und keine
Chance auf Besserung. Ganz im Gegenteil! Es wird bloß noch
schlimmer und raubt einem auch den allerletzten
Hoffnungsschimmer. Wie soll es bloß weitergehen, wenn man doch
keine Hoffnung mehr hat? Wie soll man noch irgendwie aufstehen,
wenn man doch eigentlich nur versucht, das Ganze mit so wenig
Elend wie möglich hinter sich zu bringen?
Das Leben ist so schwierig, warum kann denn nicht wenigstens
mit einem selbst alles in Ordnung sein?
Jammern auf hohem Niveau. In Anbetracht dessen, dass so viele
Lebewesen, es so viel schlimmer getroffen haben. Dessen bin ich
mir völlig bewusst. Nur ändert das leider rein gar nichts! Im
Gegenteil, dadurch fühle ich mich bloß noch schlechter und
obendrein auch noch schuldig. Ich will dies alles nicht, aber
als ob es schon jemals eine Rolle gespielt hätte, was man
selbst möchte?! Immerhin geht es doch bereits seit der Zeugung
darum, was andere wollen. Denn schon da, entscheiden die Eltern
darüber, was mit diesem Fötus nun geschehen soll. Und wenn das
fertige Produkt dann da ist, muss es halt gucken, wie es
klarkommt.
Immerhin sterben die Eltern in den meisten Fällen vor den
Kindern. Einen Gedanken, den wir schnell beiseiteschieben,
bevor er mich wieder mit sich reißt. Es ist schon traurig, wenn
man darüber nachdenkt, wie man womöglich enden wird. Umso
überzeugter bin ich von meinem Entschluss nicht alt zu werden.
Als ich damals aus der Klapse kam, habe ich begonnen Drogen zu
nehmen.
Der Gedanke dabei war ganz einfach. Nie wieder auf die
Geschlossene. Deshalb Selbstmord auf Raten. Und heute bin ich
meinem Ziel ein großes Stück näher gekommen. Ein Arzt meinte im
letzten Jahr erst zu mir, dass ich mit diesem Lebensstil keine
zehn Jahre mehr habe. Wobei das doch mehr als genug ist. Es
gibt doch ohnehin nichts, worauf ich mich noch freuen kann. Es
wäre nur schön, wenn das Sterben nicht ganz so qualvoll
verlaufen würde. Die Prognose beläuft sich auf ertrinken,
ersticken oder mein Favorit, der plötzliche
Herztod.
Allerdings habe ich wenig Hoffnung, so viel Glück zu haben. Da
bleibt mein Körper sich treu. Er hat bereits den Großteil der
Schlachten gewonnen und wird alles daran setzen, auch den Krieg
zu gewinnen!
Ach ja, leben!
Die Anthologie von Carsten Böhn führt die Leser*innen in die
unterschiedlichsten Gefühlswelten, von heiter und lustig, über
nachdenklich, bis hin zu traurigen Momenten.
Emotionen wecken, das sollten Texte stets tun, manchem
Autor*innen gelingt das gut, anderen weniger. Carsten Böhn hat
einen guten Weg gefunden seine Leser*innen ein Lächeln, eine
Träne, ein Schmunzeln abzuringen und sie in seine Kurztexte zu
entführen.
Im Buch finden sich sowohl lyrische Texte, als auch kurze
Prosatexte.
Mehr zu Mary McGirl und
andere Erzählungen findet sich auf der verlinkten
Webseite.
Abschied zu Hause
Die heiße Tasse Tee tut gut. Ich sitze an unserem
Wohnzimmertisch und genieße die Wärme der Tasse in meinen
Händen und die spät nachmittägliche Sonne auf meinem
Gesicht.
Ich habe dir auch eine Tasse eingeschenkt, ich meinte deine
Schritte zu hören, wie du langsam und immer langsamer das
Treppenhaus hochläufst.
Dein Ehrgeiz erschreckt mich, wie du dagegen ankämpfst, obwohl
deine Kraft langsam schwindet und du als gelernte
Krankenschwester ganz genau weißt, dass deine Lunge immer
weiter abbauen wird und nichts dagegen helfen wird, auch kein
unbändiger Wille es zu leugnen. Die letzten Wochen machten
alles schwerer und ich kann dich verstehen, dass alles zu Ende
gehen musste.
Jetzt fällt mir wieder ein, warum ich so angespannt bin, unser
Abschied wird am nächsten Dienstag sein. Ich verstehe dich. Ich
verstehe dich sehr gut, jeder Atemzug fiel dir schwerer als der
davor.
Doch sag mir, warum hast du das hier in unserer Wohnung getan,
in unserem Bett? Heute Morgen warst du so aufgedreht, geradezu
euphorisch, heute Mittag fand ich dich friedlich.
Wie soll ich jemals wieder dort schlafen können?
Barfuß
Du sagst, du würdest dich freuen,
wenn ich dir Rosen
auf deinen Weg streue.
Und vergisst dabei ganz,
dass er dadurch nur noch dorniger wird.
Die Anthologie Urlaub mit Freunden ist aus einem kleinen
Kollektiv von Autorinnen und Autoren entstanden, die sich zum
ersten Mal auf der schönen Nordseeinsel Baltrum getroffen
haben.
Die Idee zum Buch entstand allerdings erst später, doch ein
Teil dieser Gruppe wollte ein gemeinsames Buch entstehen
lassen. Nun haben sie es am Ende geschafft. Und blicken auf
ihre erste gemeinsame Anthologie von Kurztexten mit Freude und
dem sicheren Bewusstsein, es wird weitere geben. Ein weiterer
Band ist schon fast fertig und wird wieder im Baltrum Verlag
erscheinen.
Alles weitere zum Buch finden Sie auf der Urlaub mit Freunden Seite bei uns. Unten
finden Sie nun einen der Kurztexte aus dem Buch. Mehr finden
Sie im Buch selbst.
Kriegerin des Lichts
Nadejda Stoilova
»Schreibst du über mich, bitte«, sie blickte ihm direkt in den
Augen.
Ihre Haare waren wie einzelne Inseln weißen Mooses. Ganz
sporadisch bedeckten sie ihren Schädel. Ihr Gesichtsausdruck
hatte immer noch diesen mädchenhaften Ausdruck von früher, als
sie sich kennengelernt hatten.
Damals war sie wild wie ein Reh. Er hatte sie jahrelang gejagt,
bis sie zu ihm stand. Ihre Haare flossen schmeichelhaft wie
Seide. In rabenschwarzen Wellen ihre dürre Schulter herunter.
Schon damals mit zwanzig hatte sie einzelne weiße Strähnen
gehabt. So scherzten sie später, dass sie schon weise zur Welt
kam.
Was von der Wahrheit nicht weit entfernt lag.
Sie ist mit einem großen braunen Fleck am Hals geboren worden.
Die Hebamme bei ihrer Geburt bekreuzte sich mit Ehrfurcht, als
sie es sah. Trotz den blutigen Spuren vom Geburtswasser war es
deutlich zu sehen. Ein brauner Stern.
Später, als die ganze Aufregung vorbei war, erzählte sie ihrer
Mutter, dass dieses Kind ganz besonders ist. Sie wird es nicht
leicht im Leben haben, aber im Endeffekt wird sie große Taten
für die Menschheit vollbringen. Ihre Worte »eine neue Kriegerin
des Lichts ist geboren worden« hatte ihre Mutter mit Spott
weggetan. Sie hatte kein Verständnis für diesen esoterischen
Blödsinn.
Mirela wuchs ganz allein auf. Sie war scheu, sprach wenig, aber
wenn sie etwas sagte, fühlte sich das Gegenüber durchleuchtet.
Es war so, als würde sie ein paar Schritte im Voraus im
Gedankenfluss sein. Sie wusste Details, die gar nicht
ausgesprochen wurden. Das machte vielen Menschen Angst. Sie
wollten nicht durchschaut werden. Einige wollten ganz besonders
ihre geheimen Gedanken für sich behalten.
Sie war auch den Lehrern unheimlich. Sie mochten sie nicht. Da
sie aber vorbildliche Leistung zeigte, konnten sie ihr keine
schlechten Noten verpassen. Obwohl einige es gern gemacht
hätten. Mirela schaute sie mit den Augen einer Weisen an. Sie
fühlten sich unwohl in ihrer Nähe. Ein paar Mal haben sie mit
dem Direktor zusammen versucht, Mirela in eine andere Schule zu
versetzen. Das Problem war, dass sie hochbegabt war. Nicht nur
räumlich-visuell, sondern auch sprachlich, analytisch. Es gab
keine passendere Schule, die die Eltern sich leisten
konnten.
Der Vater war ein Alkoholiker. Er bekam sein eigenes Leben
nicht im Griff. Oft war er geistig abwesend. Die Mutter liebte
ihn trotzdem. Es war eher Abhängigkeit, keine wahre
Liebe.
Mirela war oft bei ihren Großeltern. Sie hatten ein
Holzhäuschen mitten im Stechlinsee-Naturpark. Sie fühlte sich
wohl mit den Tieren, den Pflanzen, den Bäumen. Da war ihr
Zuhause. Die Naturwesen konnten sie so annehmen, wie sie war.
Sie schenkte gerne kleinen blau-grünen Käfern die Liebe, die
sich in ihren zarten Adern gesammelt hatte.
Sie lief jeden Tag eineinhalb Stunden von der Schule zum
Großelternhaus. Egal, ob es Winter oder Sommer war. Es machte
ihr sogar nichts aus, im Schnee- oder Regensturm zu laufen.
Äußerlich zart war sie dennoch sehr zäh. Robuster im Vergleich
zu ihrem kleinen Brüderchen, das immer kränklich war. Mit dem
Down-Syndrom geboren bereitete er ihrer Mutter von Anfang an
genug Sorgen. So versuchte Mirela schon von klein an, nicht zur
Last zu fallen. Sich zurückzuziehen. In die Welt der Natur
schlüpfte sie ein.
Sie schrieb oft ihre Gedanken auf Papier. Die inzwischen
unzähligen Hefte versteckte sie auf dem Dachboden ihrer
Großeltern. Einmal entdeckte sie neben ihrem Versteck eine
Katze, die zusammen mit ihren Kleinen sich da niederlassen hat.
Sie wurden beste Freunde. Den ganzen Sommer lang haben sie mit
einander geschmust. Die Tiere fühlten sich so wohl in ihrer
Nähe. Mit der Zeit entwickelte sich eine so starke liebevolle
Verbindung, dass die Großmutter anfing, sich Sorgen zu
machen.
»Es ist nicht gut, dass sie menschenscheu bleibt«, so sprach
sie ihre Mutter über Mirela an. Bald meldeten sie Mirela in
einer Nachmittagslernhilfegruppe, damit sie ihren Mitschülern
helfen könnte. So könnte sie mehr Kontakt zu Menschen
einüben.
So ging ihre Kindheit schnell vorbei.
Als sie über sich selbst entscheiden durfte, meldete sie sich
zu einem Forstwirt- schaftsstudium an. Sie wollte Försterin
werden. Sie wollte ihre Energie dem Wohle der Natur widmen. So
konnte sie sich für die unendliche Liebe, die sie von der Natur
bekommen hatte, bedanken. Ihre Ideen und heilenden Kräfte ihr
schenken.
So lernten wir uns kennen. Ich war Professor für ökologische
und nachhaltige Bepflanzung an derselben Universität.
Von Anfang an war ich begeistert von ihren Ideen. Ich habe sie
gefördert so, wie ich nur konnte. Mit Forschungsstipendien und
-reisen nach Amazonas, Antarktika, Neuseeland und anderen
exotischen Weltecken.
Obwohl ich für meine fünfundfünfzig nicht unattraktiv aussah,
konnte ich mich noch nie binden. Es hat immer etwas gefehlt.
Ich habe immer die starke Herzensverbindung
gesucht.
Dann kam mit ihr ein frischer Wind in meinem Leben. Ich hatte
wieder Hoffnung geschöpft, dass es nicht zu spät sei. Sie war
anfangs freundlich, aber distanziert. Ich habe nie die Grenze
der Offensive überschritten. So wollte ich ihr erst mal Zeit
lassen, mich besser kennenzulernen.
Vor zwei Jahren hatte sie ein Projekt ins Leben gerufen:
»Mensch – Bäume: eine seelische Verbindung mit Potential.« Es
war ihr sehr wichtig gewesen, dass populär zu machen: eine
intuitive Sprache, die sie entdeckt hatte. Eine Art, wie
Menschen und Bäume miteinander kommunizieren können. Wie die
Bäume als Channeling-Kraft für bewusste Menschen dienen können.
Sie war überzeugt, dass Bäume eine heilende Kraft besitzen. Mit
deren Hilfe konnte der Erwärmungsprozess der Erde neutralisiert
werden. Es war ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das
wir zusammen mit den Neuseeländischen und Brasilianischen
Universitäten und Behörden unterstützen wollten.
Ich genoss es so sehr, mit ihr durch die Wälder spazieren zu
gehen. Sie konnte mich jedes Mal überzeugen, wie einfach die
Kommunikation sein könnte, wenn man die richtige innere
Intention und Affirmationen benutzt. Am Anfang war ich
skeptisch, da die Parapsychologie und die energetische
Psychologie noch nicht den wissenschaftlichen Stand für einer
ernstzunehmenden Wissenschaft erreicht hatte. Dann erschien mir
ihre Methode doch bahnbrechend. Ich sah darin eine Chance, der
Ökokatastrophe entgegenzuwirken.
Mittlerweile, nach ein paar Jahren Zusammenlebens, war ich von
ihrer außergewöhnlichen Intelligenz und Begabung
überzeugt.
Mit ihr als Frau durfte ich endlich die Herzensverbindung
leben, nach der ich mich seit vielen Jahren gesehnt hat.
Auf einer Forschungsreise nach Äthiopien wollten wir die
Sprache des Baobabs untersuchen. Danach haben wir uns ein paar
Tage Urlaub gegönnt. Zu zweit allein durch die Wüste.
Herrlich!
Bis dieses schreckliche Unglück passierte. Sie wurde von einer
giftigen Schlange gebissen. Es war überhaupt ein Wunder, dass
sie bis zum nächsten Krankenhaus durchgehalten hat. Ihr ganzer
Körper war rot, mit Flecken übersät. Sie war eine richtige
Kämpferin. Noch nie davor war sie krank gewesen. Bei den
Untersuchungen ist eine Art von Leukämie diagnostiziert
worden.
Es konnte nicht wahr sein! Sie war nicht mal fünfunddreißig!
Noch so jung…
Zurück in der Schweiz haben wir die besten Spezialisten
ausgesucht. Alle sagten, es wäre zu spät.
Mirela wollte nicht aufgeben. Ein Jahr lang hatte sie alle
möglichen alternativen Heilmethoden probiert. Sie brachten
leider keine dauerhafte Wirkung.
An den guten Tagen arbeitete sie fast zwanzig Stunden an ihrem
Forschungsprojekt. Sie wollte so viel wie möglich für die
nächsten Forscher dokumentieren.
Ich hätte lieber die Zeit mit ihr gehabt. Zu leben, was noch
möglich war.
Sie war ein unruhiger Geist. Bis zuletzt hatte sie ihre Zeit
und Energie der Menschheit gewidmet.
Ihre Reise war zu kurz. Im Dezember letztes Jahr hatte sie uns
verlassen.
Ich werde dieses Licht in ihren Augen nie vergessen.
Sie hatte etwas Großartiges den Menschen geschenkt. Etwas wofür
die nächsten Generationen auf ewig dankbar sein werden. Sie
hatte eine bahnbrechende Methode zur Naturerhaltung
hinterlassen. Dadurch könnte die Ökokatastrophe verhindert
werden.
Es hatte eine weltweite Bewegung ausgelöst.
Post mortem ist sie zum Nobelpreis nominiert worden.
Menschen aus der weiten Welt wollen mehr über diese Forscherin
erfahren.
Heute scheibe ich ein Buch über sie.
Die Kriegerin des Lichts.
Möge es Licht sein, wo du bist.
Meine liebe Mirela.
Mein Licht.
Die Anthologie unserer Autorin Susanne Speth erschien am 21.
April 2020. In dieser Anthologie finden Sie ein Sammelsurium an
skurrilen Kurztexten, Geschichten, Anekdoten die sich
hervorragend eignen, um den Tag zu beginnen am Frühstückstisch
oder aber als Gute-Nacht-Geschichte. Humor mischt sich in den
Kurztexten von Susanne Speth aber auch mit sehr ernsthaften
Lebensweisheiten.
Das Buch und alle weiteren Informationen finden Sie auf unserer
Webseite Wo ist hier der
Notausgang?
Junges Glück
Auf der Fähre nach Norderney sitzt im gleichgültigen
Sonnenschein ein finsteres Paar vor uns. Das Mädchen
verschlingt sich mit dem Jungen, küsst und patscht und zerrt an
ihm. Will hinein. Der Junge lässt es sich gefallen.
So sind sie nun mal, die Frauen. Hängen an einem dran, werden
immer schwerer auf dem Schoß. Auch dünne Mädchen. Selbst die
mit Untergewicht drücken schnell aufs Bein oder sonst wohin.
Wer sagt denen um Himmelswillen, dass sie uns wüst durch die
Haare fahren sollen? Das ist nicht schön. Es ziept und rupft
und die Fasson ist weg. Aber was willste machen? Wenn man sie
da nicht lässt, gehen auch die anderen Sachen nicht. Am Ende
werden Pickel ausgedrückt. Ich schwöre. Mit drei Mädchen hatte
ich bislang zu tun und alle hatten Spaß am Pickelquetschen.
Pervers, unter uns gesagt. Ich jedenfalls habe noch nie im
Leben gedacht: So, und jetzt mal mit Karacho an die Eiterbollen
von der Kleinen.
So war das auf der Fähre. Ein düsteres Paar in coolem Schwarz
und sie drückt seine Pickel aus. Vielleicht ist das der
richtige Anfang einer üblichen Liebesgeschichte.
Wir können nicht länger hinsehen und setzen uns um. Die alten
Paare dort machen gar nichts aneinander.
Das Buch erschien am 20. April 2020. Es ist die erste
Anthologie unseres Baltrum Verlags.
In den zahlreichen Kurzgeschichten und lyrischen Texten geht es
um das Dunkel das unser Leben manchmal beschleicht. Doch nicht
immer sind die Texte nur Dunkel, sie hinterlassen auch gerne
einen Lichtblick.
Unten finden Sie eine der Kurzgeschichten aus dem Buch. Viele
weitere sind darin, schauen Sie dazu gerne auf der Seite des
Buches Facetten von
Dunkel hier auf unserer Webseite nach.
Sandras Frage nach dem Danach
Matthias Deigner
In der eigenen Welt zu leben, das ist die Herausforderung,
Sandras Nackenhaare kräuselten sich bei dem Gedanken. Die
eigene Welt, wie konnte sie die eigene Welt finden. Sie
schaltete das Licht an, es war drei Uhr, draußen hörte sie die
langsam zum Leben erwachende Stadt. Die Digitalanzeige ihres
Weckers schaltete eine Minute weiter, sie drehte sich nochmals
in ihrem warmen Bett um, stand dann aber doch auf. Ihr
schwarzes gelocktes Haar fiel in langen Strähnen auf ihren
Rücken. Auf dem Weg ins Bad schaute sie in den Spiegel, der in
ihrem kleinen Flur hing und erkannte wie müde sie aussah. Sie
war als lebende und bekennende Christin stets bemüht sich an
alle Forderungen ihres Glaubens zu halten und doch stellte sie
sich die Frage, ob sie in ihrer Welt, die so klein war,
überhaupt würde ein christliches Leben führen können. Sie
schaute in den Spiegel des Badezimmerschrankes. Aber auch der
konnte ihr nur eines bestätigen, du bist müde und siehst
entsprechend aus. Sandra drehte den Wasserhahn auf, das kalte
Wasser rauschte in einem Schwall in das Waschbecken und
spritzte ein wenig nach oben. Mit beiden Händen fasste sie in
das kalte Wasser und wusch sich das Gesicht, schnell breitete
sich Frische darin aus. Ein weiterer Blick in den Spiegel
zeigte jedoch kaum Verbesserungen, sie war müde und sie sah es
auch deutlich an den Ringen unter den Augen, ihrem Blick, der
nicht glänzte, sondern matt war und auch ihr Mund brachte kein
wirkliches Strahlen zustande.
In Gedanken versunken stand sie da und dachte darüber nach, was
es bedeutete in dieser, in ihrer Welt zu leben. Was mochte
Danach auf sie warten? Ihr christliches Gedankenbild war starr
und fest, es wartete das Paradies, Gottes Reich, die
Herrlichkeit, wie auch immer sie aussehen mochte. Doch
innerlich, wenn sie genau hinhorchte, waren da eher Fragen denn
klare feste Bilder eines Reich Gottes. Jesus, so sagte die
Kirche, starb für die Menschen und somit auch für sie, aber
warum verlangte ein Vater den Tod des eigenen Sohnes? Und warum
war es eine Belohnung für ein christliches Leben danach in eben
des Vaters Reich zu kommen? Er verlangte also auch den Tod, um
anschließend in seinem Reich leben zu können.
Sandra nahm die Bürste von der kleinen Konsole unterhalb des
Spiegelschranks und strich damit durch ihr Haar.
Wenn er meinen Tod verlangt, dann kann es doch keine
Herrlichkeit in seinem Reich geben, es muss also etwas anderes
sein, etwas das sie nur glauben musste. Wie einfach es war es
zu glauben, es schlichtweg einfach so wie es gesagt wurde zu
akzeptieren und schon konnte die Welt im eigenen Seelenfrieden
weiter ihre Runden drehen. Aber wenn keiner fragen würde, so
dachte sie, dann würde auch keiner seine Zweifel, die er oder
sie vielleicht hatte, kundtun. Und war es nicht so, dass die
Zweifler es schwer haben würden? Weil sie eben nicht glauben
konnten?
Ein Haar ziepte und Sandra fluchte kurz darüber, ehe sie weiter
mit der Bürste ihr widerspenstiges Haar bearbeitete. Sie legte
die Bürste wieder zurück auf die Konsole.
Zweifel waren also vielleicht gar nicht erlaubt und wenn sie
nicht erlaubt waren, dann würde es vielleicht bedeuten … Sandra
konnte diesen Gedanken nicht beenden, denn zu viel Angst
steckte ihr wie ein Kloß im Hals und doch ließ er sie nicht
los. Ja, wenn der Zweifel nicht erlaubt war, dann gab es
vielleicht kein Danach. Vielleicht war alles nur eine Lüge,
Jahrhunderte lang aufgebaut, um treue Schafe zu züchten und sie
in einem Glauben zu lassen, der sie beruhigen sollte.
Vielleicht aber war das Reich Gottes realer als diese Welt,
vielleicht war dieses Reich sogar enger an und in dieser Welt,
als Sandra und alle anderen sich vorstellen mochten. Sie
schaute in den Spiegel, das Lächeln bei diesem Gedanken war
echt. Ein Lächeln aus ihrem Innern und doch würde sie die Frage
des Danach wohl nie für sich beantworten können. Aber nur um
den Gedanken zu Ende zu spinnen, gab es jemanden, der ihr dies
mit Sicherheit einfach bestätigen würde, ihr einmal sagen »Ja,
es gibt dieses Reich Gottes«? Und was, wenn ja, konnte sie
diesem Menschen dann glauben? Danach, dachte sie und griff zu
dem kleinen Rasiermesser, das neben der Bürste lag.
Danach.